Nulla crux, nulla corona

10. Dezember 2024 in Spirituelles


Wie kann ich große Herausforderungen selbst in schweren Zeiten bewältigen? Eine Handreichung. Gastbeitrag von Dr. Michael W. Busch


Wien (kath.net) Das vorliegende Manuskript war 2014 ursprünglich als Nachwort für meine Habilitationsschrift geplant, ist dann aber unveröffentlicht geblieben. Damals war meine Zukunft höchst ungewiss, mein befristeter Arbeitsvertrag lief nur noch ein Jahr, es gab einige Niederlagen in Bewerbungsverfahren, mancherlei private Sorgen bedrückten mich und durchgehend wurde ich neben der Schreib- und Forschungsarbeit durch hohe operative Belastungen des Tagesgeschäfts „gestört“. Wie habe ich es dennoch geschafft, am Ball zu bleiben, mich fokussiert der Arbeit zuzuwenden, nicht aufzugeben und die Habilitation schlussendlich zu einem erfolgreichen Ende zu führen? Vielleicht können die Gedanken, die ich damals entwickelt habe, die mir aber auch durch Lebens-, Lektüre- und Gesprächserfahrungen sowie nicht zuletzt durch Gebet und „Eingebungen“ zuteil wurden, anderen helfen, etwas Großes zu wagen, ein Vorhaben unter Ungewissheit, das einige persönliche Opfer von einem abverlangt, anzugehen – allen inneren Zweifeln und Bedenken, äußeren Widerständen und Widrigkeiten zum Trotz, im schlichten Vertrauen darauf, dass es schon irgendwie gut gehen wird, dass sich während der Bearbeitung des Problems unverhoffte Auswege und Lösungen auftun werden, dass einem Hilfe von unterschiedlichen Stellen gewährt wird. Ein Aspekt, der mir damals zunächst ganz allgemein geholfen hatte, bestand darin, konsequent nur das zu tun, was ich direkt beeinflussen konnte, und alles andere – speziell die ungewisse Zukunft – auszublenden bzw. dem lieben Gott zu überlassen. Doch es waren noch einige Elemente mehr, die mich haben durchhalten lassen, die dabei halfen, das Ziel mit großer Hartnäckigkeit und Konstanz zu verfolgen.

Zunächst aber zur grundsätzlichen Klärung der Überschrift dieses Beitrags. Den Spruch »Nulla crux, nulla corona« soll sich der fränkische Reichsritter Florian Geyer (um 1490-1525) – einer der charismatischen Anführer im deutschen Bauernkrieg – auf sein Schwert geritzt haben und meinte damit: Kein Kreuz (= Kirche) und keine Krone (= Adel) (sollen uns drangsalieren und beherrschen). Hier soll er in einem gänzlich anderen, theologischen Sinn gebraucht werden: Ohne Kreuz keine Krone, d.h. nur über die Annahme des Kreuzes im Diesseits gelangen wir zur Krone im Jenseits. »So lasst uns denn dem lieben Herrn mit unserm Kreuz nachgehen und wohlgemut getrost und gern in allen Leiden stehen. Wer nicht gekämpft trägt auch die Kron des ewgen Lebens nicht davon« (Angelus Silesius). »Die künftige Herrlichkeit, die Gott für uns bereithält, ist so groß, dass alles, was wir jetzt leiden müssen, in keinem Verhältnis dazu steht« (Römer 8, 18). Diese Grundeinsicht gilt jedoch bereits im Kleinen für rein diesseitige Bestrebungen. Auch hier geht es um Belohnungsaufschub, Impulskontrolle und Verzicht in der Gegenwart, um größere Ziele in der Zukunft erreichen zu können.

Ohne Zweifel spielt bei größeren Vorhaben die Begeisterung für die Sache eine tragende Rolle. Daneben hat es auch zahlreiche Sprüche gegeben, die mir immer wieder ein wenig geholfen und mir bei nachlassender Kraft einen kleinen Stups versetzt haben. Nicht, dass ich sie mir wie ein Mantra vorgesagt hätte, aber zu wissen, dass andere ähnliche Erfahrungen gesammelt haben, ist bisweilen beruhigend (natürlich spielen auch andere Ausgleichsmöglichkeiten wie persönliche Begegnungen, Musik, Kunst, Film, Literatur, Sport und Naturerlebnisse eine wichtige Rolle, sollen hier aber einmal ausgeklammert bleiben). Hier meine damaligen Lieblingssprüche.

Aufbauende Sprüche

Glück hilft manchmal, Arbeit immer. Inspiration kommt meist während der Arbeit, nicht vorher (Madeleine L’Engle). Du findest den Weg nur, wenn du dich auf den Weg machst (Maria Ward). Beginne zu weben, und Gott wird dir den Faden geben (deutsches Sprichwort). Geduld ist das Vertrauen, dass alles kommt, wenn die Zeit dafür reif ist (Andreas Tenzer). Früher oder später kommt der Erfolg, meistens später. Es ist keine Schande hinzufallen, aber es ist eine Schande, liegen zu bleiben. Wenn du in einem Loch sitzt, musst du zuerst mit dem Graben aufhören (japanisches Sprichwort). Zweifel sind Verräter, sie rauben uns, was wir gewinnen können, wenn wir nur einen Versuch wagen (William Shakespeare). Manchmal zeigt uns erst ein richtiger Sturm, wie viel Sorgen wir an Windböen verschwendet haben. Weiter, immer weiter ... (Oliver Kahn). Die Zeit ordnet viele Dinge (Pierre Corneille). Bleib dran, auch wenn es anders kommt als geplant (Lee Iacocca). Wenn du nicht gleich Erfolg hast, versuche es erneut, versuche es immer wieder (William Edward Hickson). Wer sich rühmt, niemals gestolpert zu sein, hat niemals versucht zu gehen (Robert S. Lynd). Besser ist Ruhe denn Unruhe, aber nützer Unruhe denn Ruhe (als „Sermonum der Erkenntnis“ der Biographie Paracelsus (1941) von Will-Erich Peuckert (1895-1969) vorangestellt). Oder: Von einem, der sich nur anstrengt, wenn er sicher ist, dafür belohnt zu werden, kann man nicht viel erwarten. Wer nichts weiter tut als Geld verdienen, verdient auch nichts weiter als Geld (José Ortega y Gasset).
Die Entwicklung von Gottvertrauen

Doch helfen all diese „weltlichen“ Durchhalteparolen am Ende nur begrenzt. Tiefer geht und wirkt das Vorhandensein von Urvertrauen, besser gesagt: von Gottvertrauen. Dies bekommt man einerseits geschenkt, muss es sich andererseits aber auch hart erarbeiten, ja erringen. Wenn eine Sache misslingt, heißt es: annehmen, akzeptieren, nicht jammern und klagen, sondern abhaken und weitermachen. Der Herrgott hat anderes mit dir vor. Hab Vertrauen. Irgendeine Lösung wird sich zum rechten Zeitpunkt für dich auftun, auch wenn sie sich jetzt noch nicht abzeichnet. In solchen Situationen gilt es also, vom Lamentiermodus rasch wieder in den Handlungsmodus umzuschalten (ein bisschen Wundenlecken bei persönlichen Rückschlägen ist natürlich erlaubt). Woraus kann man nun aber Gottvertrauen schöpfen?

Ich denke, zum einen aus dem Studium der Psalmen, des Alten und Neuen Testaments, aber auch der Kirchenlieder und der zahlreichen Hinterlassenschaften von Heiligen und Kirchenvätern. Das von der Aktion »Deutschland braucht Mariens Hilfe« neu herausgegebene Buch »Sonne Dich [in Christus und seinen Heiligen]« des Jesuiten Max Dudle ist ein vorzügliches Beispiel dafür, wie man sich durch die unvergänglichen Wahrheiten und Vorbilder der Heiligen Tag für Tag bereichern und aufbauen lassen kann. Eine Sonderstellung nehmen allgemein Gebete ein, sozusagen die metaphysische Atmung, aus der wir göttlichen Sauerstoff schöpfen. Besonders schöne Gebete kann man sammeln und lesen. Doch lernt man die Kraft des Gebets immer noch am besten durch das Beten selbst, durch den Aufbau einer persönlichen Beziehung zu Christus und seinem gesamten „Team“. All diese Möglichkeiten sind heute viel zu sehr vernachlässigte, in die letzten Besenkammern vieler westlicher Gesellschaften verbannte Möbelstücke. Diese Möbelstücke sind eigentlich Schatztruhen, aus denen sich jeder frei bedienen kann, stecken dahinter doch jahrhunderte-, ja jahrtausendealte Weisheiten und Einsichten. Gerade wegen ihrer Zeitlosigkeit können sie uns auch in der heutigen Zeit noch innerlich aufrichten. Als „Heilswissen“ spenden sie tiefergehenden Trost verglichen mit den „Allerweltssprüchen“ der Abreißkalender. Mir waren und sind sie zudem eine immersprudelnde Quelle der Inspiration.

Hier nur eine kleine Auswahl meiner Funde:
Wir wissen, dass Gott bei denen, die ihn lieben, alles zum Guten führt (Römer 8, 28). Wer auf Gott vertraut, den umgibt er mit Gnade (Ps. 32, 10). Gott ist uns nahe, so oft wir ihn anrufen (5. Mose 4, 7). Der Herr ist mein Licht und mein Heil, vor wem sollte ich mich fürchten (vgl. Ps. 27, 1)? Hab‘ Geduld in allen Dingen, vor allem aber mit dir selbst (Franz von Sales). Ich will aber, dass ihr ohne Sorge seid (1. Kor. 7, 32). Sorgt euch nicht um euer Leben und darum, dass ihr etwas zu essen habt, noch um euren Leib und darum, dass ihr etwas anzuziehen habt. Ist nicht das Leben wichtiger als die Nahrung und der Leib wichtiger als die Kleidung? Seht euch die Vögel des Himmels an: Sie säen nicht, sie ernten nicht und sammeln keine Vorräte in Scheunen; euer himmlischer Vater ernährt sie. Seid ihr nicht viel mehr wert als sie (Mt. 6, 25-26)? »Wer nur den lieben Gott lässt walten und hoffet auf ihn allezeit, den wird er wunderbar erhalten in aller Not und Traurigkeit. Wer Gott, dem Allerhöchsten, traut, der hat auf keinen Sand gebaut. Was helfen uns die schweren Sorgen, was hilft uns unser Weh und Ach? Was hilft es, dass wir alle Morgen beseufzen unser Ungemach? Wir machen unser Kreuz und Leid nur größer durch die Traurigkeit« (Johann Georg Neumark).

»Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden« (Reinhold Niebuhr). Das geknickte Rohr zerbricht er nicht und den glimmenden Docht löscht er nicht aus (Jesaja 42, 3). Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen, eine Mutter ihren leiblichen Sohn? Und selbst wenn sie ihn vergessen würde: ich vergesse dich nicht [spricht der Herr] (Jesaja 49, 15). Noch ist keine Versuchung über euch gekommen, die den Menschen überfordert. Gott ist treu; er wird nicht zulassen, dass ihr über eure Kraft hinaus versucht werdet. Er wird euch in der Versuchung einen Ausweg schaffen, so dass ihr sie bestehen könnt (1. Kor. 10, 13). »Was Gott in uns tut, während wir warten, ist mindestens so wichtig wie das, worauf wir warten« (John Ortberg). »Wenn nicht geschieht, was wir wollen, so geschieht, was besser ist« (Franz von Sales). »Du kannst nicht tiefer fallen, als nur in Gottes Hand, die er zum Heil uns allen barmherzig aufgespannt. Es münden alle Pfade durch Schicksal, Schuld und Tod doch ein in Gottes Gnade trotz aller unsrer Not. Wir sind von Gott umgeben auch hier in Raum und Zeit und werden in ihm leben und sein in Ewigkeit« (Arno Pötzsch). »Sieh nicht was andre tun, der andern sind so viel, du kommst nur in ein Spiel, das nimmermehr wird ruhn. Geh einfach Gottes Pfad, lass nichts sonst Führer sein, so gehst du recht und grad und gingst du ganz allein« (Christian Morgenstern).

»Mutter mit dem Jesuskind, Mutter Du vom guten Rat, da wir keinen Weg mehr finden, zeig uns Du den rechten Pfad! In Deine lieben Hände leg‘ ich meine ohne Bangen. Nimm Du mich mit, Du kennst den Weg, den Er gegangen«. »Maria breit den Mantel aus, mach Schirm und Schild für uns daraus, lass uns darunter sicher stehn, bis alle Stürm vorüber gehn. Patronin voller Güter, uns allezeit behüte«. »Hilf, Maria es ist Zeit, Mutter der Barmherzigkeit. Du bist mächtig, uns in Nöten und Gefahren zu erretten, denn wo Menschenhilf gebricht, mangelt doch die deine nicht. Nein, du kannst das heiße Flehen deiner Kinder nicht verschmähen. Zeige, dass du Mutter bist, wo die Not am größten ist. Hilf, Maria, es ist Zeit, Mutter der Barmherzigkeit«. »Immer wenn du denkst es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her«. »Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist mit uns am Abend und am Morgen. Und ganz gewiss an jedem neuen Tag« (Dietrich Bonhoeffer). »Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt. Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann (...) Ihn, ihn lass tun und walten, er ist ein weiser Fürst und wird sich so verhalten, dass du dich wundern wirst, wenn er, wie ihm gebühret, mit wunderbarem Rat das Werk hinausgeführet, das dich bekümmert hat« (Paul Gerhardt).

Bewältigung von Herausforderungen als zentrale (Über-)Lebensfrage

Ich glaube, wir brauchen solchen Zuspruch von oben, denn selbst wenn sich die Zeiten geändert haben, der Mensch ist seinem Wesen nach gleich geblieben. Er ist weiterhin Ängsten, Versuchungen und Zweifeln ausgesetzt, mit denen er umzugehen hat, die er – wie im Einzelfall auch immer – in irgendeiner Weise bewältigen muss und für die Geld in der Regel keine Lösung anbietet (es sei denn, es betrifft jemanden, der unterhalb des Existenzminimums lebt). Diese Bewältigung ist ein bis zum letzten Atemzug anhaltender Lernprozess, wobei ich hier Lernen als eine mit Anstrengungen verbundene Aneignung und Verarbeitung von Wissen und Erfahrungen verstanden wissen will. Eine der interessantesten, höchst inspirierenden Studien, die die Frage der (Lebens-)Bewältigung behandelt, ist die durch den amerikanischen Psychiater George E. Vaillant (*1934) seit über vierzig Jahren begleitete Langzeitanalyse der Lebensläufe von 268 Männern, die sog. Grant-Studie (vgl. Shenk 2009, S. 30). Seit den späten 1930er Jahren wurden an der Harvard University Männer von ihren ersten Collegejahren durch Krieg, Karriere, Heirat, Scheidung, Elternschaft und Großelternschaft bis ins hohe Alter begleitet. „Diese einmalige Sammlung von systematisch erhobenen, streng anonymisierten und akribisch ausgewerteten Lebensgeschichten bietet tiefe Einsichten in das menschliche Dasein“ (Shenk 2009, S. 28). „Eine überdauernde Lehre dieser Studie ist: Leben ist immer paradox, und die eindrucksvollsten Triumphe sind oftmals auch bedrückende Fallgeschichten von leidvollen Erfahrungen und Widrigkeiten. Für Vaillant ist die zentrale Frage der menschlichen Entwicklung nicht, was einem alles zustoßen kann, sondern wie man mit Problemen und Widrigkeiten umgeht. Das wichtigste Interpretationsmuster ist für ihn die psychoanalytische Kategorie des Abwehrmechanismus – also die unbewusste Reaktion eines Menschen auf Schmerzen, Konflikte, Mängel oder Unsicherheit (...) Für Vaillant sind die Abwehrmechanismen das mentale Äquivalent zu biologischen Schutzmechanismen (...) [Sie] erhalten (...) in emotionalen Turbulenzen unser inneres Gleichgewicht“ (Shenk 2009, S. 30), wobei sie uns sowohl schützen als auch ruinieren können. Dabei lassen sich vier Kategorien von Abwehrmechanismen unterscheiden – von extrem ungesund bis gesund bzw. reif. Die ungesunden Reaktionen auf der untersten Stufe sind Psychosen wie Paranoia, Halluzination, Größenwahn. Sie machen den Betroffenen die unerträgliche Situation erträglich, erscheinen allen anderen jedoch als verrückt. Auf der zweiten Stufe treten unreife Abwehrmechanismen wie Hypochondrie, passiv-aggressives Verhalten, Projektion und Fantasieren auf. Sie stellen den Betroffenen nicht ins völlige Abseits wie auf der ersten Stufe, verhindern aber dennoch normale zwischenmenschliche Beziehungen. Auf der dritten Stufe sind neurotische Abwehrmechanismen anzutreffen – zumeist der „Normalfall“. Menschen greifen hier auf Intellektualisierung und Rationalisierung, auf Dissoziation und Verdrängung zurück, was sich als Naivität oder auch als Ignoranz gegenüber bestimmten Sinneswahrnehmungen äußern kann. Die vierte und höchste Stufe besteht in reifen bzw. gesunden Abwehrmechanismen. Dazu gehören Altruismus, Humor, Antizipation, d. h. die Fähigkeit, sich für künftige Probleme zu wappnen, Unterdrückung (im Gegensatz zur Verdrängung eine willentliche Nichtbeachtung eines Impulses oder Konfliktes, um ihn zu einem späteren Zeitpunkt zu bearbeiten) und schließlich Sublimation – das Finden von akzeptablen, idealerweise sogar kreativen Ventilen für aggressive oder sexuelle Impulse (vgl. zum Vorhergehenden Shenk 2009, S. 30). „Im Gegensatz zu Anna Freud, die die Ursprünge der Abwehrmechanismen in sexuellen Konflikten des Kindes sah, betrachtet Vaillant diese seelischen Anpassungsleistungen als etwas, das sich aus dem Schmerz von Erfahrungen organisch entwickelt und uns das ganze Leben hindurch begleitet“ (Shenk 2009, S. 30 sowie ausführlicher Vaillant 2012). Die nächsten Jahre werden zeigen, wieviele ungehobene Schätze diese Studie noch birgt. Speziell der Aspekt, wie religiöser Glaube und die Entwicklung reifer Abwehrmechanismen zusammenhängen, dürfte meines Erachtens zu äußerst wertvollen Einsichten führen.

Gott meint es gut mit uns

Läuft bei unseren größeren Plänen nicht alles so schnell, wie wir uns selbst das gewünscht und vorgestellt haben, so sollten wir nicht verbittern, nicht verzagen, nicht zu murren anfangen oder uns in Schwermut verlieren. All das hilft nicht, sondern nimmt uns nur gefangen, raubt uns die Energie, die wir sinnvoller für produktive Gedanken und Aufgaben verwenden sollten. Außerdem – und hier kommt die zweite Quelle, aus der wir Urvertrauen schöpfen können, zum Vorschein – sollten wir von der Grundeinsicht ausgehen bzw. fest daran glauben, dass es der Herrgott wie ein Vater mit seinem Kind letztlich stets gut mit uns meint. Wie sollte er als Schöpfer mit seinem Abbild auch anders verfahren? Verschiedene Anordnungen und Begebenheiten in unserem Leben wollen wir nicht einsehen, rebellieren gegen sie. Das liegt aber nur daran, weil wir die Dinge von unserer beschränkten Warte aus sehen. Gott sieht von einer höheren Warte aus, überblickt wie in einem Panorama unser gesamtes Leben und weiß, was uns auf lange Sicht (sub specie aeternitatis) nutzt und was uns schadet (auch wenn ihm vieles, was Menschen Menschen antun, sehr bekümmern wird). Er weist uns aus krummen Wegen, die wir gewählt haben oder auf die wir geraten sind, wieder die Richtung für den geraden Weg. Inwiefern wir das, was uns nutzt, das, was er uns anbietet, tatsächlich auch gewinnbringend ergreifen, liegt an uns selbst. Deswegen haben wir einen freien Willen. Deswegen sind wir mit Herz und Verstand – den beiden Polen der »Sonne unserer Fähigkeiten« (Balthasar Gracián) – ausgestattet worden. Den Widerspruch zwischen göttlicher Vorhersehung bzw. vermeintlicher Prädestination und freiem Willen müssen wir so stehen lassen und demütig hinnehmen, denn wie sollen wir je Gottes Ratschluss erkennen? Es haben sich unzählige Theologen vor uns den Kopf darüber zerbrochen und sind zu keiner Lösung gelangt. Hier sei auf eine kleine Tagebuchnotiz von Ernst Jünger (1895-1998) vom 27. Januar 1969 in Wilflingen verwiesen. „Beendet: Jung-Stilling, »Lebensgeschichte«, die wieder einmal gedruckt worden ist. Sie hat eine kleine, doch treue Leserschaft (...) Bei Stilling liegt die Heilkunst am Rande der christlichen Existenz. Im Gelingen der Kuren wird der Zustrom göttlicher Gnade gesehen. Schwierig scheint es, bei solcher Überzeugtheit die Klippe der Determination zu umschiffen – was Stilling insofern gelingt, als er im »strebenden Bemühen« die Voraussetzung der Gnade erkennt, vor allem im Gebet. Wäre die Welt vollständig determiniert, so müssten die Kriege, die Seuchen, der Mord im göttlichen Plan enthalten sein. Das alles kam jedoch erst nach dem Abfall, nach dem Raub der Erkenntnis in die Welt“ (Jünger 1995, S. 555).

Der Kreuzweg als Lebensschule

In allem, was uns zustößt, sollten wir also davon ausgehen, dass Gott uns zu sich ziehen will, dass er unsere Seele gewinnen und modellieren will, und hierzu hat er uns nicht nur in unserem Inneren mit einer tiefen Sehnsucht nach ihm ausgestattet, sondern er schickt uns auch das Kreuz. Dazu gehören ebenso all die kleinen Kreuzchen des Alltags, seien es Aufgaben, die uns widerstreben, seien es Menschen, die uns durch ihre Gegenwart das Leben schwer machen, oder sonstige Unannehmlichkeiten. Vor dem Kreuz fliehen für gewöhnlich alle Menschen, weisen es von sich und doch kann es uns stärker machen, können wir daran wachsen, sofern wir es geduldig annehmen und Christus in Liebe nachtragen. Das Kreuz geduldig anzunehmen, also der besondere Leidenswille (damit ist nicht die quasi masochistische Tendenz gemeint, sich selbst unnötig Leid aufzuerlegen oder Leid künstlich zu erschaffen) war und ist das Kennzeichen aller Heiligen gewesen, die genau wie wir ganz gewöhnliche Menschen waren, denen es aber gelungen ist, sich trotz aller Widernisse und oft auch Verfolgungen zu ungewöhnlichen Menschen emporzukämpfen (kämpfen deswegen, weil die Selbstheiligung immer auch ein Bezwingen der eigenen Natur, der schlechten Neigungen ist). Scheinbar geht es nicht anders. Das Leid, vor dem heute alles flieht, denn gesucht werden immerwährender Reichtum, Wohlergehen und Schönheit (also Unendliches im Endlichen), ist und bleibt die zentrale Größe, wenn es darum geht, aus uns wahre Menschen werden zu lassen. Fliehen wir vor dem Leid, so fliehen wir eigentlich vor uns selbst und verkommen zur Ware Mensch, zur fremdgesteuerten Marionette falscher irdischer Versprechungen. Im Übrigen kommt das Leid auf einem anderen Weg irgendwann wieder zu uns zurück, denn schließlich können wir nicht auf Dauer vor uns selbst davon laufen. Einer der wenigen deutschen Schriftsteller der Nachkriegszeit, der die höhere Bedeutung des Leids, des Schmerzes vollkommen erfasst hat, war Ernst Jünger, dem ich sehr viele Anregungen zu verdanken habe. Zwei Zitate mögen dies verdeutlichen:

-    „Wir werden ein wenig zu wild geboren und heilen die gärenden Fieber durch Tränke von bitterer Art“ (Jünger 1999, S. 245).

-    „Endlich: Haeckel in seiner Monismus-Rede von 1892: »Insbesondere betonen wir die grundsätzliche Einheit der anorganischen und der orga-nischen Natur – – – wir verwerfen die übliche Unterscheidung zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft. Die letztere ist nur ein Teil der ersteren – oder auch umgekehrt. Beide sind Eins.« »Oder auch umgekehrt.« Der Zoologe ist vom Speziellen zum Generellen hinauf oder auch hinab gestiegen wie Herder vom Theologen zum Menschen schlechthin. Das verrät auch das späte Porträt, das Gerhard Heberer in seine Haeckel gewidmete Monographie aufgenommen hat. Ein Guru blickt uns an. Die Aufnahme zählt zu den Altersbildern großer Wissender, die uns, wie das von Leonardo oder das Schellings, erhalten geblieben sind. Hier sind nicht, wie beim Übermenschen, Mutationen anzunehmen, sondern Verdichtungen der Erbmasse durch geistige Zucht. Die Substanz wird durchsichtig, durchflutet von kosmischem Licht. Das ist ein Wunder, aber ein Wunder auch, dass sich der Kohlenstoff unter tellurischem Druck zum Diamanten kristallisiert. Kein Prozess, sondern eine Modifikation, die äußerst selten, doch jedem möglich ist, der sich die Mühe, mit dem Eigenen, mit dem zugeteilten Pfund zu wuchern, nicht verdrießen lässt“ (Jünger 1995, S. 543, Hervorhebungen durch den Verf.).

Ich denke, erst unser ganz persönlicher Umgang mit Leid, mit Zumutungen, mit Niederlagen und Rückschlägen, die Annahme des speziell für uns gezimmerten Kreuzes, lässt uns wachsen, lässt uns zum Kern unseres Selbst vordringen, so wie der Soldat erst im Krieg zeigen kann, wie tapfer er ist, so wie der Baum, der im Sturm tüchtig geschüttelt wird, die faulen Früchte und morschen Äste verliert, die gesunden aber behält. Zu dieser Einsicht des mysterium crucis – also der heilsbringenden Bedeutung des Kreuzes – bin ich vor allem über die Lektüre der Schippacher Schriften von Barbara Weigand (1845-1943) gelangt, die ich mit großem Gewinn in der ersten Jahreshälfte 2012 für mich entdecken durfte. Jedoch, dies muss ich ehrlicherweise eingestehen, bin ich bei der theoretischen Einsicht schon wesentlich weiter gelangt als bei der praktischen Umsetzung. Davon, das eigene Kreuz freudig zu umarmen, wenn es einem auferlegt wird, und Christus für alles dankbar zu sein, bin ich leider noch weit entfernt. Zumindest arbeite ich aber daran, im Kreuz geduldiger und gleichmütiger zu werden. Eine Lebensaufgabe auf dem Weg zur Selbstvervollkommnung.

Wer die Gottesliebe verschmäht, den straft Gott mit Eigenliebe

Das Selbst, von dem ich hier spreche, ist nicht zu verwechseln mit dem falschen Ich, dem hypertrophen Ego der vielen Narzissten und Histrioniker unserer Tage, die Gott aus ihrem Leben gestrichen und sich selbst an dessen Stelle gesetzt haben, die Gottes Gesetze nach eigenem Gutdünken auslegen, sie durch ihnen passender erscheinende (zumeist bequemere, hedonistischere) Maßstäbe ersetzen oder die Gott fälschlicherweise als Münzautomaten begreifen, der gefälligst sofort die Wünsche „auszuspucken“ hat, die man ihm vorträgt. Ich spreche nicht von den vielen Ichlingen, die zu keinerlei Verzicht oder persönlichem Opfer bereit sind, und die beim kleinsten Gegenwind des Schicksals gleich zu wimmern beginnen und auf theatralische Weise in Weltuntergangsschmerz verfallen. Für diese ist zu sagen: Wer die Gottesliebe verschmäht, den straft (!) Gott mit Eigenliebe – und es dauert oft sehr lange, bis sich die Betroffenen dieser Tatsache bewusst werden. Die wohl beste literarische Wiedergabe dieses Gedankens findet sich in der Gestalt des Schriftstellers Hyacinthe de Lafite in Franz Werfels (1890-1945) Roman »Das Lied von Bernadette«, der die Geschichte der Marienerscheinungen von Lourdes verarbeitet. Lafite, der im Film kongenial von Vincent Price (1911-1993) verkörpert wird (dort als Staatsanwalt Dutour), erweist sich als der größte Skeptiker und spottet vielfach über den falschen Wunderglauben des einfältigen Volkes, der seiner Meinung nach im aufgeklärten 19. Jahrhundert nichts mehr zu suchen hat. Am Ende des Buches (Kapitel 48) – Lafite weiß, dass er den Krebs in sich hat und bald sterben wird – nähert er sich zögernd der Erscheinungsgrotte. Das dort versammelte Volk betet gerade die Lauretanische Litanei und den Englischen Gruß. In einer bewegenden Darstellung, in der Werfel das Gebet und die monologisierenden Gedanken Lafites wechseln lässt, verdichtet sich in dem atheistischen Freidenker immer mehr die Einsicht, dass sein größtes Hindernis in seinem Leben in ihm selbst lag, in seinem Stolz, der Vergötzung seines Verstandes und seiner Unfähigkeit, wahrhaft zu lieben (vgl. Werfel 1996, S. 514 ff.). Am Ende geht auch er in die Knie und murmelt: Bitt für mich, Bernadette!

Auch mit den Skeptikern und Zweiflern hat Gott in ihrem Leben unendlich viel Geduld, im Grunde bis zum letzten Atemzug, doch sollte niemand diese Geduld überstrapazieren oder ihrer gar spotten. Es gibt das eine Auge Gottes – die Barmherzigkeit: das war der Schächer am Kreuze, der bereute und mit Christus als erster ins Paradies einging. Es gibt aber auch das andere Auge Gottes – die Gerechtigkeit, die auf alten Gemälden im Bild der (Lebens-)Waage erfasst wurde: diese traf den anderen Schächer, der Jesus schmähte. Die Chancen stehen also fifty-fifty. Der Mailänder Pater Carl Ambrosius Cattaneo (1645-1705) hat zu den Grenzen von Gottes Langmut deutliche Worte gefunden. „Gott ist gut; das ist gewiss, und ein nicht zu bezweifelnder Vordersatz: also kann ich mich allen Schlechtigkeiten hingeben; das ist die verkehrteste Schlussfolgerung, die es nur geben kann. Und wer so denkt, der kehrt alle Denkgesetze um, schleudert dem Urheber der Gnade eine entsetzliche Beleidigung ins Angesicht und macht sich dadurch allein schon jeglichen Erweises der göttlichen Barmherzigkeit unwürdig (...) Wäre es ein Lob für einen Lehrer, auch in der untersten Schule, ihn für so gutmütig ausgeben, dass seine Schüler sich alle Frechheiten gestatten können in der sicheren Zuversicht, nie dafür bestraft zu werden? Wäre es ein Lob für einen Offizier, wenn er als ein solcher Hampelmann gälte, dass jeder Soldat ihm ohne Furcht vor der gebührenden Strafe auf der Nase herumtanzen könnte? Das wäre eine Strohfigur von Schullehrer; ein Hans Narr von Offizier, der nicht begriffe, dass er mit so lächerlicher Gutmütigkeit alle militärische Disziplin zu Grunde richte“ (Cattaneo 1889, S. 133 f.).

Festzuhalten bleibt: Egal, was uns begegnet oder auferlegt wird, immer sollten wir davon ausgehen, dass Gott für uns stets das Beste will, dass alles für uns letztlich einen Sinn ergibt, auch wenn wir diesen Sinn im Hier und Heute noch nicht zu erkennen vermögen (und ihn bei manchen Dingen vermutlich erst im Jenseits wirklich begreifen werden). Im Epilog seines Romans »Der veruntreute Himmel. Die Geschichte einer Magd« erkennt Franz Werfel genau in diesem Verlust des Glaubens an ein Jenseits, im Verlust des menschlichen Glaubens an die Unsterblichkeit der eigenen Seele die Wurzel des Problems der Moderne. „Unsere Seelen wollen nicht mehr an ihre Unzerstörbarkeit glauben und damit an ihre ewige Verantwortung. Der veruntreute Himmel ist der große Fehlbetrag unserer Zeit. Seinetwegen kann die Rechnung nicht in Ordnung kommen, weder in der Politik noch auch in der Wirtschaft, denn alles Menschliche entspringt derselben Quelle. Eine konsequent gottlose Welt ist wie ein Bild ohne Perspektive. Ein Bild ohne Perspektive ist die Flachheit an sich. Ohne sie ist alles sinnlos. In der totalen Sinnlosigkeit sind aber auch unsere natürlichen Menschenrechte sinnlos, selbst das Recht, nicht getötet zu werden. Folglich gibt es heute nur ein einziges Recht, nämlich die sogenannte Macht der Tatsachen oder das Gesetz des Dschungels“ (Werfel 1952, S. 243).

Die Sinnsuche als menschliches Urbedürfnis

Nichts ist umsonst im Universum. Gott hat für alles einen Grund. Gott weiß, was er tut. Wie der Töpfer sind wir der Ton in seinen Händen. Gerade weil uns Gott liebt, muss er uns manches Mal züchtigen, auch wenn er dies ungern tut. Kein Vater, es sei denn er hat eine perverse sadistische Ader, hat Freude daran, sein Kind zu bestrafen, nachdem es seinen Ermahnungen nicht gefolgt ist. Und doch muss er es tun, wenn sich das Kind bessern soll. Pater Pio, der als Beichtvater bekannt für seine ruppigen Zurechtweisungen war, hat dies einmal so ausgedrückt: »Der Chirurg muss verletzen, um zu heilen«. Ähnlich ist auch Pater Jordans Ausspruch zu verstehen: »Die Werke Gottes gedeihen nur im Schatten des Kreuzes«. Besonders beeindruckend ist hier die Lebensleistung des Juden Viktor E. Frankl (1905-1997), der seine Eltern und seine Frau im KZ verlor, dort selbst interniert wurde und überlebte, dies autobiographisch in dem Buch mit dem vielsagenden Titel »... trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager« (Frankl 2005) verarbeitet und später darauf aufbauend seine Logotherapie und Existenzanalyse entwickelt hat (vgl. Riemeyer 2007, S. 188 ff.). Diese geht davon aus, dass fehlender Sinn als universale Erklärung psychischer Störungen angesehen werden kann. Die Sinnfrage im menschlichen Leben stellt sich der Einzelne aber in der Regel erst, wenn der normale Lebensfluss durchbrochen wird (etwa durch Schicksalsschläge).

Unser Umgang mit Leid und Schmerz als Schmelztiegel der Persönlichkeitsentwicklung

„Das Leiden, die Not gehört zum Leben dazu, wie das Schicksal und der Tod. Sie alle lassen sich vom Leben nicht abtrennen, ohne dessen Sinn nachgerade zu zerstören. Not und Tod, das Schicksal und das Leiden vom Leben abzulösen, hieße dem Leben die Gestalt, die Form nehmen. Erst unter den Hammerschlägen des Schicksals, in der Weißglut des Leidens an ihm, gewinnt das Leben Form und Gestalt (...) [L]eiden ist (...), sofern notwendiges Leiden vorliegt, der Möglichkeit nach etwas Sinnvolles (...) Vermeidbares Leiden ist weder sinnvoll noch notwendig, unvermeidbares Leiden bietet jedoch eine superiore Sinnmöglichkeit. Soll das nun heißen, Leiden sei notwendig, um Sinn zu finden? Das wäre ein grobes Missverständnis. Was ich meine, ist keineswegs, dass Leiden notwendig ist, vielmehr will ich sagen, dass Sinn möglich ist trotz Leidens, um nicht zu sagen, durch ein Leiden (...) Halten wir fest: zunächst gilt es, die Ursache eines Leidens zu beheben und zu beseitigen; mit einem Wort, dem Aktivwerden gebührt die Priorität. Ausschließlich im Falle, (...) dass sich wirklich nichts „machen“ lässt, zumindest vorläufig nichts – ausschließlich in diesem Falle gibt das Leiden eine Sinnmöglichkeit her. Die jedoch ist die höchstmögliche. Zwar gebührt ihr nicht die Priorität, aber dafür eignet ihr die Superiorität. Leiden verlangt dem Menschen Mut ab. Der Wagemut [pati aude! (...)] der Mut zum Leiden – dies ist es, worauf es ankommt. Es gilt, das Leiden anzunehmen, das Schicksal zu bejahen, sich ihm zu stellen. Auf diesem Weg allein kommen wir an die Wahrheit heran, kommen wir ihr nahe – auf diesem Weg allein, nicht auf den Wegen der Flucht und Furcht vor dem Leiden (...) [W]enn Leben überhaupt einen Sinn hat, dann muss auch Leiden einen Sinn haben. Unabänderliches Leiden ist dann sinnvoll, wenn es in einer übergeordneten, etwa religiösen Ebene als bedeutsam und wertvoll erscheint (...), wenn man ahnt, dass ein unsichtbarer Zeuge und Zuschauer da ist“ (Frankl, zitiert in Biller/Stiegeler 2008, S. 167 f.). Man denke daran, wie Ludwig van Beethoven (1770-1827) trotz seines Leidens der Taubheit, welches für einen Musiker und Komponisten wohl das schwerste Kreuz darstellt, es dennoch geschafft hat, weiterzumachen und Kompositionen hervorzubringen, die bis heute die Zuhörer ins Staunen versetzen, weil sie über sich und die Zeit hinausweisen. Oder man schaue sich die Lebensgeschichte Anton Bruckners (1824-1896) an, der sich trotz unsäglicher Schmähungen durch seine Zeitgenossen, vieler anfänglicher Misserfolge und daraus resultierender innerer Unsicherheiten und Zweifel am Ende doch dazu durchringen konnte, unbeirrt an seinen symphonischen Kathedralen weiter zu bauen, wenn auch die letzte (leider) unvollendet blieb. Das war sein persönlicher Kreuzweg, seine Mission. „Gott will es mit mir! Ich muss da durch!“, hat er einmal geseufzt.

In dem 1993 produzierten Film »Shadowlands – Ein Geschenk des Augenblicks« des Regisseurs Lord Richard Attenborough (1923-2014) spielt Sir Anthony Hopkins den Literaturprofessor C. S. Lewis (1898-1963). Dieser lebt mit seinem Bruder in einer festgefügten, durch Rituale geprägten, wohlbehüteten häuslichen Ordnung. In seinen Vorlesungen und Vorträgen beschreibt er den Schmerz als „Gottes Megaphon für eine taube Welt“. Erst in der Begegnung mit der schwerkranken Amerikanerin Joy Davidman (1915-1960), in die er sich verliebt und die er schließlich am Krankenbett heiratet, erkennt er, was Schmerz tatsächlich bedeutet, denn nun erfährt er ihn zum ersten Mal mit voller Gewalt an sich selbst. In diesem Schmelztiegel scheiden sich allgemein die Geister, hier trennt sich die Spreu vom Weizen, das Gold vom wertlosen Metall: Die einen verbittern und zürnen Gott, andere fallen von ihm ab, bei wieder anderen wächst dagegen die Nähe und Liebe zu Gott, entspringt tiefster Glauben. Wie reagieren wir auf das Kreuz? Werden wir die Größe Hiobs besitzen? Können wir uneingeschränkt Rupert Mayers (1876-1945) Gebet zustimmen? »Herr, wie Du willst, so will ich geh’n, Und wie Du willst, soll mir gescheh’n. Hilf Deinen Willen nur versteh’n. / Herr, wann Du willst, dann ist es Zeit, Und wann Du willst, bin ich bereit. Heut und in alle Ewigkeit. / Herr, was Du willst, das nehm’ ich hin, Und was Du willst, ist mir Gewinn. Genug, dass ich Dein Eigen bin. / Herr, weil Du's willst, d’rum ist es gut, Und weil Du's willst, d’rum hab’ ich Mut. Mein Herz in Deinen Händen ruht«. Meine 2013 verstorbene Großmutter hatte folgendes Lied in ihren Unterlagen: »Lasst uns danken statt zu klagen, loben, wenn uns sinkt der Mut, und wir werden es erfahren, dass Gott lauter Wunder tut (...) Wenn Er uns Geduld will lehren, schenkt Er die Gelegenheit, schickt uns Menschen, die uns stören, sind wir dann zum Lob bereit?« (Margret Birkenfeld).

Nichtaufgeben als wichtigste Lebensvoraussetzung

Diese Gedanken sind meine Sicht der Dinge, entspringen meiner „Sinnprovinz“ wenn man so will – eingestandenermaßen eine ausgesprochene Minderheitenposition speziell in der heutigen sich werturteils- und glaubensfrei dünkenden Wissenschaftswelt. Ich bin kein Missionar und will niemanden bekehren. Jeder hat einen freien Willen, kann und sollte sich seines Verstandes bedienen, um zu eigenen Schlussfolgerungen zu gelangen, seine eigene Sicht der Dinge zu entwickeln. Dennoch hoffe ich, dass ich mit diesen ganz persönlichen Einblicken, die in mir auch erst allmählich durch Erfahrungen und Überlegungen über Jahrzehnte gereift sind, denjenigen ein wenig Mut vermitteln kann, die vor schier unlösbaren Aufgaben oder Problemen stehen, sich von diesen überfordert fühlen und kurz davor sind, aufzugeben. Diesen halte ich entgegen: Gebt nicht auf, macht weiter oder – wenn ihr noch gar nicht angefangen habt – fangt endlich an und nutzt eure Zeit! Die knappe Zeit, die uns zur Verfügung steht, durchschnittlich 4.000 Wochen (Oliver Burkeman), gehört sinnvoll verwendet, nicht verschwendet. Just do it! Wer will, findet Wege, wer nicht will, findet immer die passenden Gründe und Ausreden. Meist wurzeln die vorgebrachten Gründe in fehlendem Vertrauen – in sich selbst, in seine Umwelt, in Gottes gute Vorsehung. Doch Angst vor Spott und Unverständnis aus der Umwelt oder vor finanziellen Einbußen und Verschlechterungen der Karriereaussichten müssen wir überwinden, wenn wir große Ziele erreichen wollen, Ziele, für die wir wirklich innerlich brennen und die allein uns vollkommen lebendig werden lassen.

Deswegen: So trivial es auch klingen mag und so oft es schon in Motivationsbüchern aufgeführt wurde: Jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt. Diesen Schritt müssen wir wagen und dann weitere und weitere. Franz von Assisi hat dies wunderbar in Worte gefasst: »Tu erst das Notwendige, dann das Mögliche, plötzlich schaffst du das Unmögliche«.

Zum Schluss möchte ich noch drei Geschichten aufführen, die mich besonders geprägt und immer wieder aufgerichtet haben. Sie bündeln die zuvor geschilderten Ansichten nochmals wie in einem Prisma.

„Eine sehr alte chinesische Taogeschichte erzählt von einem Bauern in einer armen Dorfgemeinschaft. Man hielt ihn für gutgestellt, denn er besaß ein Pferd, mit dem er pflügte und Lasten beförderte. Eines Tages lief sein Pferd davon. All seine Nachbarn riefen, wie schrecklich das sei, aber der Bauer meinte nur: »Vielleicht«. Ein paar Tage später kehrte das Pferd zurück und brachte zwei Wildpferde mit. Die Nachbarn freuten sich alle über sein günstiges Geschick, aber der Bauer sagte nur: »Vielleicht«. Am nächsten Tag versuchte der Sohn des Bauern, eines der Wildpferde zu reiten; das Pferd warf ihn ab und er brach sich ein Bein. Die Nachbarn übermittelten ihm alle ihr Mitgefühl für dieses Missgeschick, aber der Bauer sagte wieder: »Vielleicht«. In der nächsten Woche kamen Rekrutierungsoffiziere ins Dorf, um die jungen Männer zur Armee zu holen. Den Sohn des Bauern wollten sie nicht, weil sein Bein gebrochen war. Als die Nachbarn ihm sagten, was für ein Glück er habe, antwortete der Bauer: »Vielleicht«“ (Bandler/Grinder 1985, Einleitung).

Die zweite Geschichte entstammt den Tagebuchaufzeichnung von Ernst Jünger, die er mit siebzig Jahren begonnen hatte (Siebzig verweht I). Er berichtet am 8. Juli 1965 von einer Seereise im Golf von Aden:

„Dann Betrachtung der Seekarte und Unterhaltung mit dem Ersten Offizier. Wir erfuhren dabei die erstaunliche Geschichte eines Unfalls, der sich vor einiger Zeit in der Nähe der Bermudas ereignete. Ein Ingenieur, der nach einer Geburtstagsfeier seine Kabine aufsuchen wollte, beugte sich zu stark über die Reling und stürzte ins Meer. Er wurde erst nach zwei Stunden bei der Wachablösung vermisst. Die See ging hoch; es war höchst unwahrscheinlich, dass man ihn noch finden würde; trotzdem wendete das Schiff und fuhr auf dem Kurs zurück. Vier Stunden nach dem Unglück erreichte es ungefähr den Ort und kreuzte dort; der Kapitän ließ das Meer mit Scheinwerfern absuchen – vergeblich, wie man sich gleich gedacht hatte. Natürlich hatte man, als der Verlust offenbar geworden war, ihn durch Funk verkündet, um Schiffe, die vielleicht in der Nähe wären, zu benachrichtigen. Das erwies sich als Glück, denn nach vierzehn Stunden wurde der Mann, der immer noch schwamm, von einem Feuerschiff aus gesichtet und an Bord gebracht.

Er berichtete später, dass es ihm trotz dem hohen Seegang gelungen war, sich halb schwimmend, halb treibend über Wasser zu halten; in solchen Lagen heißt es vor allem: Kraft sparen. Er hielt sich mit dem Winde, die Wellen trafen ihn von hinten, das Salzwasser schürfte ihm den Nacken, so dass sich die Haut ablöste. Als es hell wurde, kamen Fische und spielten mit ihm; sie stießen ihn mit ihren Rüsseln und Schnauzen an. Und als endlich das rettende Schiff nahte, ergriff ihn die Furcht, dass es vorbeiführe – ein Kopf inmitten der Wogen erscheint kaum größer als ein Punkt. Er zog die Unterhose aus, die er als letztes Kleidungsstück behalten hatte, und winkte damit.

Das Abenteuer gab mir nach verschiedenen Richtungen hin zu denken, auch hinsichtlich der Statistik, denn es fällt aus dem Rahmen der Wahrscheinlichkeit. Wie viele müssen ertrinken, bevor einer gerettet wird? Und warum gerade er? Es ist ein Wunder, jedenfalls für die Betroffenen. Und wenn er es so auffasst, schließt es stellvertretende Verpflichtung ein (...) Und wieder die Frage: Wo wird es registriert? Der hier Gerettete berichtete nämlich ferner, er habe sein eigenes Schiff wiederkehren und nach ihm suchen gesehen. Als es dann fortfuhr, wollte er aufgeben“ (Jünger 1995, S. 62 f.).

Die letzte Geschichte habe ich irgendwo in meinen Unterlagen, finde sie aber nicht mehr. Ich weiß nur, dass ich sie vor Jahren auf der Rückseite eines Blättchens des Neukirchener Kalenders gelesen habe. Der Inhalt war in etwa folgender:
Ein amerikanischer Psychologe erzählte ein Erlebnis aus seiner Kindheit. Er hatte sich versehentlich im Bad eingeschlossen und schaffte es nun nicht mehr, herauszukommen. Voller Verzweiflung rief er nach seiner Mutter, die alsbald herbeigeeilt kam und ihm gut zuredete. »Hab keine Angst, Papa kommt gleich und holt dich da raus«. Wie gebannt schaute der kleine Knabe auf die Tür, von der aus ja wohl die Hilfe kommen sollte. Plötzlich vernahm er ein Geräusch hinter sich und sah seinen Vater, der über die Leiter in das Fenster eingestiegen war und ihn auf diesem Weg aus seiner unglücklichen Lage befreite.

Ich denke, diese Geschichte hat eine allgemeine, für Wissenschaftler wie für jeden Menschen interessante Moral: Oft fixieren wir uns in unserem Leben auf eine ganz bestimmte Lösung, von der wir glauben, dass sie die Einzige sei, die all unsere Probleme beheben könne und dann tut sich mit einem Mal eine andere Lösung aus einer völlig unerwarteten Richtung auf und verschafft uns von dort Hilfe. Ähnliches gilt für den kreativen Schaffensprozess: Hier suchen wir ebenfalls oft an der falschen Stelle wie verzweifelt nach der Lösung eines Problems, um dann „zufällig“ an ganz anderer Stelle fündig zu werden oder eine Inspiration an einem Ort zu erhalten, der überhaupt nichts mit unserer eigentlichen Arbeit zu tun hat.

Am Ende bleiben wir fast beschämt zurück und erkennen, wie beschränkt und kleinmütig wir doch waren. Wir können dann nur ein Wort sagen: Danke!

Quellenangaben
Bandler, R./Grinder, J. (1985): Reframing. Ein ökologischer Ansatz in der Psychotherapie (NLP). Paderborn.
Biller, K./Stiegeler, M. de Lourdes (2008): Wörterbuch der Logotherapie und Existenzanalyse von Viktor Emil Frankl. Wien.
Cattaneo, C. A. (1889): Vorbereitung auf einen guten Tod. Zweiter Teil. Regensburg.
Frankl, V. E. (2005): ... trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. Wien.
Jünger, E. (1995): Siebzig verweht I. 3. Aufl. Stuttgart.
Jünger, E. (1999): Afrikanische Spiele. 2. Aufl. Stuttgart.
Peuckert, W.-E. (1941): Theophrastus Paracelsus. Stuttgart, Berlin.
Riemeyer, J. (2007): Die Logotherapie Viktor Frankls und ihre Weiterentwicklungen. Eine Einführung in die sinnorientierte Psychotherapie. Bern.
Shenk, J. W. (2009): Was das Leben gelingen lässt. Psychologie heute 36 (11), S. 28-33.
Vaillant, G. E. (2012): Triumphs of experience. The men of the Harvard Grant Study. Cambridge.
Werfel, F. (1952): Der veruntreute Himmel. Die Geschichte einer Magd. Frankfurt am Main.
Werfel, F. (1996): Das Lied von Bernadette. 2. Aufl. Frankfurt am Main.

 


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