Die Berufung zur Keuschheit - Moraltheologische Überlegungen

29. Dezember 2023 in Kommentar


„Helfende Gnaden“ und die Berufung zur Keuschheit – Moraltheologische Gedanken zu „Fiducia supplicans“ / Ein Gastkommentar von Thorsten Paprotny.


Berlin (kath.net)
Der Abschnitt III der Erklärung, insbesondere Nummer 31, die Ausführungen über die Segnung von Paaren in irregulären Situationen und die Segnung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften, hat in der Kirche und besonders in den Medien in den letzten Tagen des Advents für Aufruhr gesorgt. Heißt der Vatikan – und damit Papst Franziskus – homosexuelle Liebesgemeinschaften gut? Stimmt das Dikasterium für Glaubenslehre unter der Leitung von Kardinal Fernandez den irrlichternden Meinungen führender Vertreter des deutsch-synodalen Weges zu? Die Verunsicherung ist verständlich und groß.
Der außerrituelle Segen kann und darf, so heißt es in Abschnitt 31 von „Fiducia supplicans“ (https://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_ddf_doc_20231218_fiducia-supplicans_ge.html), nur denjenigen Paaren gespendet werden, die über ihre Lebensform und -praxis verunsichert sind, um Führung und damit um Gottes Hilfe bitten, „die sich als mittellos und seiner Hilfe bedürftig erkennen und nicht die Legitimation ihres eigenen Status beanspruchen, sondern darum bitten, dass alles, was in ihrem Leben und ihren Beziehungen wahr, gut und menschlich gültig ist, durch die Gegenwart des Heiligen Geistes bereichert, geheilt und erhöht wird“. Missverständlich klingt etwa eine Wendung wie „menschlich gültig“, wolkige Worte, die gänzlich nebulös sind – was heißt das? Wesentlich ist jedoch die nächste Ausführung: „Diese Formen des Segens sind Ausdruck der Bitte an Gott, jene Hilfen zu gewähren, die aus den Anregungen seines Geistes hervorgehen - die die klassische Theologie „helfende Gnaden“ nennt -, damit die menschlichen Beziehungen in der Treue zur Botschaft des Evangeliums reifen und wachsen, sich von ihren Unvollkommenheiten und Schwächen befreien und sich in der immer größeren Dimension der göttlichen Liebe ausdrücken können.“
Über die „helfende Gnade“, die in der Erklärung erwähnt wird, sollte nachgedacht werden. Was bedeutet das, und wohin führt sie? Die helfende Gnade ist himmelwärts gerichtet und hilft dabei, all das zu erkennen, was nach Gottes Willen zu wollen und zu tun ist – und einzusehen, was nach Gottes Willen auf keinen Fall zu wollen und zu tun ist. Vielleicht möchte Gott von Menschen in solchen Verbindungen nichts anderes als ein Leben in Keuschheit und selbstloser Freundschaft untereinander?
Der Katechismus ist nicht geändert worden. Deshalb scheint es lohnend und vernünftig zu sein, diesen zu lesen und zu beherzigen. Die Abschnitte 2357 und 2358 sind – immer noch – verbindlich gültig mit Blick auf Homosexualität:
„2357 Homosexuell sind Beziehungen von Männern oder Frauen, die sich in geschlechtlicher Hinsicht ausschließlich oder vorwiegend zu Menschen gleichen Geschlechtes hingezogen fühlen. Homosexualität tritt in verschiedenen Zeiten und Kulturen in sehr wechselhaften Formen auf. Ihre psychische Entstehung ist noch weitgehend ungeklärt. Gestützt auf die Heilige Schrift, die sie als schlimme Abirrung bezeichnet [Vgl. Gen 19, 1-29; Röm 1,24-27; 1 Kor 6,10; 1 Tim 1,10.], hat die kirchliche Überlieferung stets erklärt, „daß die homosexuellen Handlungen in sich nicht in Ordnung sind“ (CDF, Erkl. „Persona humana" 8). Sie verstoßen gegen das natürliche Gesetz, denn die Weitergabe des Lebens bleibt beim Geschlechtsakt ausgeschlossen. Sie entspringen nicht einer wahren affektiven und geschlechtlichen Ergänzungsbedürftigkeit. Sie sind in keinem Fall zu billigen.
2358 Eine nicht geringe Anzahl von Männern und Frauen haben tiefsitzende homosexuelle Tendenzen. Diese Neigung, die objektiv ungeordnet ist, stellt für die meisten von ihnen eine Prüfung dar. Ihnen ist mit Achtung, Mitgefühl und Takt zu begegnen. Man hüte sich, sie in irgendeiner Weise ungerecht zurückzusetzen. Auch diese Menschen sind berufen, in ihrem Leben den Willen Gottes zu erfüllen und, wenn sie Christen sind, die Schwierigkeiten, die ihnen aus ihres Verfaßtheit erwachsen können, mit dem Kreuzesopfer des Herrn zu vereinen.“
Wenn wir „Fiducia supplicans“ im Sinne der Lehre der Kirche aller Zeiten und Orte begreifen möchten, dann kann die außerrituelle Segnung von Personen in gleichgeschlechtlicher Verbindung, Lebenspartnerschaften von Mann und Frau oder wiederheiratet Geschiedene zu einem Weg der sexuellen Enthaltsamkeit, d. h. zur Keuschheit, verhelfen. Anderes ist nicht vorstellbar. Die „helfende Gnade“ soll die suchenden Sünder, die einsehen, dass sie der Hilfe Gottes unbedingt bedürftig sind und sich gegenwärtig noch auf dem – römisch-katholisch betrachtet – objektiv falschen Weg der Sünde befinden, zu einem Leben in Keuschheit führen.
In „Fiducia supplicans“ lesen wir in Abschnitt 32: „Gottes Gnade wirkt in der Tat im Leben derjenigen, die nicht behaupten, gerecht zu sein, sondern sich demütig als Sünder wie alle anderen bekennen; sie ist in der Lage, alles nach den geheimnisvollen und unvorhersehbaren Plänen Gottes zu lenken. Deshalb nimmt die Kirche mit unermüdlicher Weisheit und Mütterlichkeit all jene auf, die sich Gott mit einem demütigen Herzen nähern, und begleitet sie mit jenen geistlichen Hilfen, die es jedem ermöglichen, den Willen Gottes in seiner Existenz vollständig zu verstehen und zu verwirklichen.“ Der „geheimnisvolle und unvorhersehbare Plan Gottes“ liegt also nicht in der Gutheißung und Legitimation einer quasi-eheähnlichen Verbindung, sondern in dem, was im Katechismus ausgeführt wird:
„2359 Homosexuelle Menschen sind zur Keuschheit gerufen. Durch die Tugenden der Selbstbeherrschung, die zur inneren Freiheit erziehen, können und sollen sie sich - vielleicht auch mit Hilfe einer selbstlosen Freundschaft -‚ durch das Gebet und die sakramentale Gnade Schritt um Schritt, aber entschieden der christlichen Vollkommenheit annähern.“
Es wäre gut, ja sehr notwendig gewesen, schon zur Vermeidung von Irritationen, wenn in „Fiducia supplicans“ diese Abschnitte aus dem verbindlich gültigen Katechismus der römisch-katholischen Kirche zitiert und energisch bekräftigt worden wären. Wenn man „Fiducia supplicans“ im Horizont des Katechismus liest, so dürfen wir hoffen, dass die Absicht der Erklärung darin besteht, die in irregulären lebenden, aber bereits verunsicherten Sünder zu ermutigen, nicht länger zu sündigen, sondern ein Leben gemäß dem Evangelium Jesu Christi und der Lehre der Kirche, das heißt in Keuschheit – und damit dem Willen Gottes entsprechend – zu führen. Das hätte in der Erklärung sehr viel deutlicher gemacht werden können. Die fehlende Bezugnahme auf den Katechismus ist ein Mangel, ja ein großes Manko. Die unmissverständliche Klarheit des Katechismus könnte uns helfen, die missverständlich anmutende Erklärung „Fiducia supplicans“ richtig einzuordnen.

 


© 2023 www.kath.net