22. Juli 2020 in Aktuelles
„Nicht nur ein Krieg mit strategischen Atomwaffen, sondern auch ein Krieg mit konventionellen Waffen kann ein solches Verbrechen sein. Der Zweite Weltkrieg bietet auf beiden Seiten der Kriegsgegner solche Beispiele.“ Gastkommentar von Manfred Spieker
Osnabrück (kath.net) Die Kirchen wollten das Konzept der nuklearen Abschreckung nicht mehr tolerieren, schreibt Thomas Jansen in der FAZ vom 24. Juni 2020 („Auf ethische Distanz zu Atomwaffen“). Die EKD habe dies schon 2007 in einer Denkschrift deutlich gemacht, und die von der Deutschen Bischofskonferenz und dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken getragene Kommission Justitia et Pax sei 2019 zu dem Schluss gekommen, dass die bisherige moralische Duldung der Strategie der nuklearen Abschreckung aufgegeben werden müsse, weil sich die Hoffnung auf substantielle Fortschritte in der atomaren Abrüstung nicht erfüllt habe. Die moralische Verurteilung der nuklearen Abschreckung würde Papst Franziskus voranbringen können, so Jansen, wenn er die Ächtung der Atomwaffen im Katechismus der Katholischen Kirche „festschreiben“ ließe.
Papst Franziskus würde mit einer solchen Verurteilung den Dilemmata der Friedenssicherung nicht entrinnen. Schon das II. Vatikanische Konzil sah sich 1965 gezwungen, wie Anfang der 80er Jahre auch zahlreiche Bischofskonferenzen in der Nachrüstungsdebatte der NATO, die verschiedenen Dilemmata der Friedenssicherung unter den Bedingungen der atomaren Rüstung zu reflektieren. Das Konzil hat zwar erklärt, dass mit der Entwicklung wissenschaftlicher Waffen das Zerstörungspotential der Rüstung „ins Unermessliche“ wachse und mit ihrer Anwendung „die Grenzen einer gerechten Verteidigung weit überschritten“ würden. Aber es hat die Möglichkeit einer gerechten Verteidigung auch unter den Bedingungen atomarer Rüstung nicht in Frage gestellt und die „Verurteilung des totalen Krieges“ nicht an der Waffengattung, sondern an der Intention der Kriegführenden festgemacht: „Jede Kriegshandlung, die auf die Vernichtung ganzer Städte oder weiter Gebiete und ihrer Bevölkerung unterschiedslos abstellt, ist ein Verbrechen gegen Gott und gegen den Menschen, das fest und entschieden zu verwerfen ist“. Nicht nur ein Krieg mit strategischen Atomwaffen, sondern auch ein Krieg mit konventionellen Waffen kann ein solches Verbrechen sein. Der Zweite Weltkrieg bietet auf beiden Seiten der Kriegsgegner solche Beispiele. Andererseits können taktische Nuklearwaffen so zielgenau eingesetzt werden, dass sie die Einhaltung der Kriterien einer gerechten Verteidigung nicht von vornherein ausschließen. Es bleibt das Risiko der Eskalation. Aber der Besitz von Atomwaffen ist nicht a priori verwerflich.
Zusammen mit einer glaubwürdigen Strategie, das heißt Abschreckung durch flexible Optionen statt durch massive Vergeltung, mindern die Atomwaffen seit 75 Jahren das Risiko einer militärischen Aggression. Um diese flexible Antwort zu gewährleisten, war Anfang der 80er Jahre die Nachrüstung der NATO mit nuklearen Mittelstreckenraketen geboten. Diese Nachrüstung war die Voraussetzung für den INF-Vertrag von 1987. In den langen Bemühungen um atomare Abrüstung war dies ein großer Erfolg, der zum Ende des Kalten Krieges beitrug.
Die Versuchung zu einem Nuklearpazifismus war in den Kirchen schon in der Nachrüstungsdebatte der NATO verbreitet. Der Reformierte Bund in Deutschland erhob die Frage der Nachrüstung 1982 in den status confessionis: Die Bereitstellung und Anwendung von Atomwaffen sei unvereinbar mit dem christlichen Glauben. Auf katholischer Seite neigten die amerikanischen Bischöfe 1982 im zweiten Entwurf ihres Friedenshirtenbriefes zu einem Nuklearpazifismus light. Sie forderten die NATO-Staaten auf, zu erklären, dass sie nicht als erste Atomwaffen einsetzen würden.
Nach Konsultationen mit Vertretern des Vatikans und der Bischofskonferenzen einiger NATO- Staaten führten sie in die endgültige Fassung ihres Hirtenbriefes 1983 eine methodologische Unterscheidung von grundsätzlicher Bedeutung ein, die im zweiten Entwurf noch fehlte: Die Unterscheidung zwischen Urteilen zu moralischen Prinzipien einerseits und Aussagen zu konkreten Fragen, sogenannte „prudential judgements“, andererseits. Die „Klugheitsurteile“ würden auf Bedingungen beruhen, „die sich ändern können oder die von Menschen guten Willens unterschiedlich interpretiert werden können (zum Beispiel die Stellungnahme zu ‚kein Ersteinsatz‘)“. Der Verbindlichkeitsgrad der Klugheitsurteile ist also geringer als der von Urteilen zu moralischen Prinzipien. Christen können zu konkreten Fragen der Rüstungstechnologie und der Militärstrategie unterschiedlicher Meinung sein. Deshalb ist der Katechismus nicht der geeignete Ort, um ein Urteil über die nukleare Abschreckung zu fällen.
Prof. Dr. Manfred Spieker ist emeritierter Professor für Christliche Sozialwissenschaften am Institut für Katholische Theologie der Universität Osnabrück.
Foto: Archivbild des zerstörten Köln am Ende des Zweiten Weltkriegs
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